Size Matters: Der digitale Zwilling
In der Elektronikfertigung gilt der Grundsatz “weniger ist mehr”. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, aus denen im Laufe der vergangenen Jahre elektronische Baugruppen immer kleiner geworden sind und dieser Trend setzt sich noch weiter fort. Der Preis, den Elektronikfertiger dafür zahlen müssen ist hoch, da bestehende Paradigmen in der Montage, bei der Inspektion, bei Prüfungen und der Qualitätskontrolle bis aufs Äußerste strapaziert werden. Bei dem digitalen Zwilling handelt es sich wohl um ein neues Paradigma, wobei dieser Begriff jedoch, wie viele anderen Dinge unserer Zeit, von Marketingteams überstrapaziert wurde, um damit die unterschiedlichsten Produkte und maßgeschneiderten Technologien zu bewerben.
Die dadurch entstandene Verwirrung hemmt wiederum den Fortschritt. Lassen Sie uns einen gemeinsamen Blick darauf werfen, worum es bei einem echten digitalen Zwilling überhaupt geht, nämlich die Komponenten, dessen Einsatz und die daraus resultierenden Vorteile. Der digitale Zwilling ist nämlich nicht nur eine faule Ausrede, um coole 3-D Grafiken zu zeigen.
Es kommt auf die Größe an
Die Miniaturisierung in jedweder Form hat den Wettbewerb zwischen Erstausrüstern wesentlicher Konsumgüter entfacht und dieser Wettbewerb erstreckt sich nun auf die gesamte Branche. Los ging es bereits in den 1980-er Jahren, als tragbare Endgeräte zum ersten Mal auf den Markt kamen und der Wettstreit zwischen den Fertigungsriesen dieser Geräte öffentlich ausgetragen wurde. Die Markteinführung des bis dato kleinsten Mini-Discplayers von Sharp in Tokio, die unter großem Medieninteresse stattfand, ist hierfür ein großartiges Beispiel. Diesem Ereignis wohnte auch der damalige Präsident von Sony, Norio Ohga bei, der auf die Frage, wie er es denn fände, dass Sharp den kleinesten Discplayer der Welt herausgebracht habe, einen Player aus seinem Jackett zog, der nur halb so groß war und lächelnd sagte: „Das glaube ich nicht“.
Obwohl das Tamtam längst nicht so groß ist, ist die Verkleinerung der Elektronik immer das große Ziel gewesen. Das Augenmerk liegt nicht ausschließlich darauf stylish und leicht tragbar zu sein; denn elektronische high-end Steuerungen sind heutzutage in Allem integriert und eingebettet, einschließlich Telefonen, Messgeräten, automobiler Intelligenz sowie in der Militär- und Raumfahrttechnik. Neben der Größe sind natürlich auch andere Faktoren entscheidend, wie das Gewicht, der Platzbedarf für Lagerung und Transport, der Materialverbrauch, besonders im Hinblick auf die ohnehin nur begrenzt zur Verfügung stehenden wichtigsten Materialien, der Energieverbrauch des Geräts, einschließlich dessen Sicherheit, insbesondere des Akkus, und darüber hinaus die Robustheit des Gerätes, besonders was den Schutz der Betroffenen anbelangt, beispielweise im Falle einer Kollision im Straßenverkehr.
Es ist also nichts Neues, dass es auf die Größe ankommt. Inzwischen scheinen wir aber an einem Punkt angelangt zu sein, an dem eine Verfeinerung bestehender Prozesse in der Fertigung, die Montage elektronischer Geräte sowie die Integration elektronischer Baugruppen in mechanische Produkte, hinsichtlich der Größe nicht weiter möglich ist. Es ist an der Zeit, dass die Branche einen Schritt nach vorne macht, anstatt nur schrittweise Änderungen vorzunehmen.
Alles beginnt mit der Arbeitsvorbereitung
Im Bereich Arbeitsvorbereitung ist die Frage nach kleineren Designs kein wirkliches Problem, denn in allen Phasen kann sich das AV-Team hineinzoomen und sieht dann wieder so klar wie vorher. In der echten Welt gibt es diesen Luxus nicht, da es einige sehr spezifische Einschränkungen gibt, die der Designer später bei der Durchführung seiner Design For Manufacturing (DFM) Tests erlebt. Viele Annahmen und Entscheidungen werden typischerweise in der virtuellen Welt der AV getroffen und müssen später neu evaluiert werden. Manche Probleme treten auch erst zu Tage, wenn das Produkt gefertigt wird, so dass beispielsweise Testpunkte nicht zugänglich sind oder Montagebestätigungen nicht vollständig erfolgen können. Dabei erhöht sich natürlich das Risiko, dass ein fehlerhaftes Produkt auf den Markt gebracht wird. Der Trend, immer kleinere Produkte herzustellen und dabei die Dichte der Komponenten immer weiter zu erhöhen, hat in Summe zu vielen Problemen geführt. Hierzu gehören die Schablonenfertigung, Bestückung von Komponenten, das Löten sowie Tests und Inspektionen. Tatsächlich liegt die Ursache der meisten Probleme in der Fertigung an der Größe. Obwohl Automatisierung entwickelt wurde, um dem Trend der Miniaturisierung folgen zu können, hat der Trend im Hinblick auf den Menschen leider den gegenteiligen Effekt. Inzwischen ist es so weit gekommen, dass immer mehr traditionelle Montageaufgaben durch manuelle Montage schlicht nicht mehr möglich sind, sondern nur noch per Robotermontage erfolgen können oder spezielle Werkzeuge und Geräte erfordern. Natürlich führt das zu steigenden Kosten und zu größerer Vorlaufzeit für die Fertigung. In dieser wettbewerbsorientierten Branche sind das alles andere als gute Nachrichten.
Auch abseits der Fertigung ist die Zuverlässigkeit von Produkten auf dem Markt beeinträchtigt, da immer kleinere Produkte zum Beispiel Schwierigkeiten haben, Wärme effektiv abzuleiten. Kleinere Komponenten bedeuten auch eine geringere Toleranz gegenüber ungewöhnlichen Bedingungen, wie z.B. Überspannung. In vielen Fällen führt das zu einer geringen Lebenserwartung der Produkte.
Die Rolle des digitalen Zwillings
Die Entwicklung digitaler Werkzeuge für die Arbeitsvorbereitung zusammen mit dem anschließenden Datenfluss zur Fertigung und den vielen Werkzeugen, die im Anschluss benötigt werden, um die Fertigung auszuführen, sind ziemlich weit von der Welt entfernt, in der sie zum Einsatz kommen und das Ergebnis ihrer Arbeit unterliegt ebenfalls keinem Evaluierungskonzept. Diese Verbindung ist von alles entscheidender Bedeutung. Denn ohne diese Verbindung ist die Entwicklung vergleichbar mit einem Fernsehsender, der Programme zeigt, ohne zuvor nachgeforscht zu haben, was die Leute sehen möchten. Die Definition des digitalen Zwillings geht über die einfache Datenerfassung im Zusammenhang mit dem Produktdesign, der Herstellung und dem Betrieb hinaus. Er ist vielmehr die Schnittstellt aus der physischen und der virtuellen Welt, so dass die Bearbeitung und die Verwendung von Daten die oben genannten Einschränkungen überwindet. Dies betrifft nicht nur das Produkt als solches, sondern auch sämtliche Materialien, Werkzeuge, Maschinen und Prozesse, die im Lebenszyklus eines Produkts verwendet werden und berücksichtigt außerdem Umweltfaktoren, wie Temperatur, Druck, Energieversorgung und physische Belastungen, denen das Produkt ausgesetzt ist.
Die Verwendung des digitalen Zwillings
Daher beinhaltet der wahre digitale Zwilling eine breite Palette und Architektur von Technologien, die alle durch Daten repräsentiert werden, die jeder Anwendung zur Verfügung stehen, welche Bestandteil des neuen Paradigmas in der digitalen Fertigung sein möchte. Auf höchster Entwicklungsstufe kann dann ein Geschäftsführer auf seinem Bildschirm einfach ein digitales Produktmodell auswählen und dieses anschließend auf das digitale Baugruppenmodell einer Linie oder einer Fabrik ziehen. Dadurch werden automatisch die Kapazität, die Lieferung, der Zeitplan und die Fertigungskosten angezeigt, wobei viele Softwareschichten unterschiedlicher Hersteller, einschließlich IIoT-gesteuerten MES und Maschinenherstellern, nahtlos zusammenarbeiten, um die physische und die digitale Welt zu modellieren. Die Konstrukteure brauchen sich nicht länger auf statische Regeln in der AV verlassen, sondern können die Auswirkungen der Produzierbarkeit und der Produktzuverlässigkeit nahtlos nachvollziehen, wenn sie die ursprüngliche Arbeitsvorbereitung ausführen. In der Fertigung sind sie nicht mehr von der physischen Analyse eines Produkts abhängig, um die Konfigurationsparameter für die Produktion zu bestimmen, sondern sie können auf Grundlage des digitalen Modells festgelegt werden, wobei dann die Einschränkungen der tatsächlich ausgewählten Ausrüstung, Materialien und Werkzeuge mitberücksichtigt werden. Dies ist vergleichbar mit einem manuellen Eingreifen in die Programmierung oder den Konstruktionsprozess und kann nicht mehr zuverlässig nur basierend auf Grundlage des physikalischen Bereichs erfolgen, wenn Produktgrößen kleiner werden und die Komponentendichte zunimmt.
Die Realisierung des digitalen Zwillings
Die praktischen Wege zum echten digitalen Zwilling wurden bereits aufgenommen. So ist beispielsweise das IPC-2581 Digital Product Model (DPMX) ein ausgereifter und erfolgreicher Weg, mit dem das ganze elektrische Design einer Leiterplatte in einer einzigen Datei modelliert werden kann. Mit dem Standard JEDEC JEP-30 können Komponenten nun dreidimensional modelliert werden, wozu auch Temperaturprofile, Spezifikationen und Toleranzen gehören. Der IPC Connected Factory Exchange (CFX) Standard fördert eine offene, IIoT-gesteuerte Kommunikation zwischen Maschinen und Systemen, die von der IIoT-basierten MES-Plattform koordiniert wird. Dies ist wesentlich, da die für den Digitalen Zwilling erforderliche Konnektivität alle Komponenten einschließt, ohne dass in der Branche mehrere Millionen Dollar für maßgeschneiderte Verbindungen ausgegeben werden müssen. Der wahre digitale Zwilling beinhaltet all diese bestehenden Technologien und weitet seinen Geltungsbereich auf Dinge wie mechanische AV, Robotersimulation und Zuverlässigkeitsleistung aus. Diese Elemente sind keine Lösungen als solche, sie sind nicht proprietär oder gehören einem einzigen Anbieter, sondern sie definieren die Umgebung, in der die Lösungen vieler unterschiedlicher Anbieter zusammenarbeiten können.
Was kann ich tun?
Für die überwiegende Mehrheit der Branche ist es wichtig, nur die wahre Tragweite dessen, was geschieht zu verstehen, damit sie auf dieser Basis vermarktete Lösungen beurteilen können. Sie wissen, was geschehen muss, um den Übergang von dem getrennten physischen und dem digitalen Management vollziehen zu können und zum wahren digitalen Zwilling zu werden, der diese beiden Aspekte miteinander kombiniert. Für diejenigen, die abenteuerlustig genug sind, um zur Schaffung eines Standards für den Digitalen Zwilling beizutragen oder einfach nur mehr darüber zu verstehen, worum es beim echten Digitalen Zwilling geht, hat das IPC gerade eine solche Initiative gestartet. Diese wird sich schnell zu einer notwendigen Anleitung dafür entwickeln, was in der Branche geschehen muss, um den in unserer miniaturisierten Welt die erforderlichen Schrittwechsel zu vollziehen.
Autor: Michael Ford, Aegis Software